Seehund „Hannes“ und seine Reisen.


Es war einmal ein kleiner Seehund mit dem Namen „Hannes“, der die erste Zeit seines Lebens in einem wunderschönen kleinen Tierpark in Nordhorn in der Grafschaft Bentheim verlebte. Doch eines Tages versiegte die Milch seiner Seehundmama, und die toten Fische vom Pflegepersonal wollte er nicht. Von seinem Vater hatte er einmal gehört, dass seine Vorfahren vor langer langer Zeit in einem großen Meer den Fischen gern hinterherjagten um sie zu fressen, und dabei noch zusätzlich viel Spaß hatten.

Diese Gedanken gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf, und er beobachtete seine Umgebung genau. Der kleine schlaue Racker roch das Wasser der nahen „Vechte“, das sich kurvenreich durch Wiesen und Felder hindurchschlängelte.
Hannes war ein sehr sportlicher Seehund. Er übersprang elegant die Außenmauern seines Wasserbeckens und robbte schnell in Richtung des Flusses. Seine Freude war riesengroß und er glitschte flink und übermütig in die Fluten.

„Ob das schon das große Meer war, von dem sein Vater immer erzählte?“, dachte er bei sich und schwamm munter immer weiter. Beim Umschauen bemerkte er, dass Menschen in Paddelbooten hinter ihm hereilten und andere aufgeregt im hohen Wuchs der nahen Uferböschung in seine Richtung zeigten. Fangnetze und Stangen hatten sie in den Händen und fuchtelten damit im Wasser herum. Was es zu bedeuten hatte, das wusste er nicht. Es machte ihm aber Spaß, allen zu entkommen, die sich ihm näherten. Spielerisch entwischte er über und unter die gespannten Netze, sprang kleine Wehre des Wasserlaufes hinunter und tummelte sich in der Sicht von Schaulustigen.
Dann hörte er einen kleinen Jungen besorgt rufen:
„Mama, der Hannes schwimmt ja nach Holland rein!“.
Ein fremdes Land erkunden, ja das wollte er gerne und so schwamm er weiter und weiter. Tage vergingen.

Plötzlich wurde er von mehreren Booten begleitet und sah in einiger Entfernung ein gespanntes Netz vor einer Flussenge. Mit dieser Situation hatte er nicht rechnen können, denn er war nur ein kleiner Seehund, der erst die Welt entdecken wollte, vieles nicht kannte. Jetzt bemerkte er instinktiv die Gefahr und floh, aber zu spät, denn ein Mensch umklammerte ihn mit eisernem Griff und zog ihn aus dem Wasser, andere halfen begeistert und hievten ihn in einen großen Bottich. All die Leute um ihn herum sprachen ganz anders und so dachte er bei sich: „Sicherlich bin ich jetzt in Holland!“.
Er wurde in die Seehund-Auffangstation Pieterburen gebracht und traf dort auf andere Seehunde aus den verschiedenste Gewässern. Untereinander erzählten sie sich schaurige Geschichten und Erlebnisse. Besonders oft wurde vom großen Meer berichtet, dass es dort große Ungeheuer gibt, die besonders gerne Seehunde fressen. Sie würden sich ranschleichen und nur das riesige Maul aufreißen, um sie mit einem Schnapper zu verspeisen. Dem Hannes machten solche gruseligen Geschichten stets Angst und er sehnte sich immer mehr nach seinem Zuhause im Nordhorner Tierpark. Auf keinen Fall wollte er ins große Meer, wo Seehunde gefressen werden. Sehnsüchtig dachte er an das Becken, wo er gefahrenlos froh und munter herumtollen konnte.

Eines Tages schwebten über ihm riesige Heißluftballons. Da kam ihm eine Idee, da einer sehr tief in der Luft hing. Mit große Anstrengung kletterte er über die Beckenmauer und robbte, wie bereits das Mal zuvor, übers flache Land den bunten Ballons hinterher. Tatsächlich erreichte er eine große Wiese, auf der schon andere Ballons gelandet waren. Hannes versteckte sich hinter einem Busch und hörte einen Menschen sagen:
„Wir fahren bald nach Deutschland und kommen wie gewohnt auch über Nordhorn“.
„Habe ich richtig gehört?“, dachte der kleine Racker bei sich und wurde ganz aufgeregt, denn das wäre seine einzige Chance in seine Heimat zu kommen. Er wusste aus seehundlichen Berichten, dass es kein Seehund schaffen könnte, den Weg zum Herkunftsort wiederzufinden. So beobachtete er sehr aufmerksam das Treiben der Leute mit den Ballons. Es wurde schon dunkel, als er sah, dass ein Korb in seiner Nähe nach und nach mit eigenartigen Dingen und Decken gefüllt wurde. Die Nacht kam, und nun schlich er sich zu dem am Boden liegenden Korb und sprang auf eine Seitenkante, die sogleich zur Seite kippte. Bis zum Morgengrauen lag er still unter Körben und Decken bis es sehr geschäftig um ihn herum wurde. Aufgeblasene Heißluftballons starteten unter feurigen Geräuschen einer nach dem anderen in Richtung Deutschland.

Jetzt plagten ihn die Gedanken, wie er denn aus dieser Höhe und Situation in den Tierpark gelangen könnte. Ruhig lag er zu Füßen der Menschen und dachte intensiv über eine Lösung nach. In diesem Moment erinnerte er sich an die großen Störche, die täglich über sein ehemaliges Wasserbecken zur „Vechte“ und Umgebung flogen, um sich ihre Mahlzeiten dort zu holen. Er beobachtete dabei wie sie mit ihren ausgebreiteten Schwingen kreisend oder zielgerichtet durch die Lüfte streiften.
„Das könnte auch für mich die Lösung sein“, dachte er bei sich und sah sehr skeptisch auf seine kurzen Flossen. Unerwartet hörte er, wie ein Mensch seine Position durchgab: „Wir überqueren gerade Nordhorn!“.

Wie der Blitz sauste Hannes aus seinem Versteck, sah in verschreckte Gesichter, nahm alle Kraft zusammen und sprang in gewohnter Weise auf die Korbkante. Der Ballon wackelte hin und her und aufgeregte Schreie der Ballonfahrer wurden immer leiser, denn er befand sich inzwischen im freien Fall. Seine kleinen Flossen waren nicht sehr flugtauglich und somit versuchte er mühevoll mit dem Schwanz in Richtung Tierpark zu lenken, den er in diesem Augenblick entdeckte. Riesengroß wurden seine niedlichen Kulleraugen, als er Wasser und Seehunde entdeckte. Mit letzter Steuerungskraft gelang dem Ausreißer ein Kunststück und er landete mit einem Riesenplatscher im Wasser seiner Artgenossen. Verdutzt schauten sie auf den vom Himmel gefallenen Hannes.

„Was machst du denn hier. Wir dachten du bist in Holland!“, sagte ein kleinerer Seehund und schmiegte sich liebend an den Ankömmling.
„Die Sehnsucht nach meiner Heimat und die Erinnerungen an liebevolle Betreuung drängten mich zurück!“, sagte es, und tauchte wild umher.

Schnell machte es die Runde, dass der inzwischen bekannte Seehund vom Himmel gefallen war. Der Leiter des Tierparks kletterte schnell auf einen großen Baum und verkündete mit einem Megaphon:
„Liebe Besucher, ich kann euch eine freudige Mitteilung machen, denn unser Hannes ist wieder da. Durch eine beachtliche Leistung überquerte er mit einem Heißluftballon die Grenze und zeigte uns Menschen, dass Tiere treu und anhänglich sein können, wenn sie Liebe und Zuneigung erfahren!“.

Nach dieser Durchsage liefen kleine und große Besucher eilig zum Seehundbecken, um sich den nun berühmten Seehund näher anzusehen. Völkerverbindend waren die Berichte der Medien, die vom reisenden Seehund Hannes berichteten, der nicht im großen Meer gefressen werden wollte und daher in seinen heimatlichen Tierpark zurückkehrte.

© Heidrun Gemähling