Vom hölzernen Laufrad zur heutigen Fietse.

Das Fahrrad brachte Freiheit und Unabhängigkeit.


Das Bestreben nach Fortschritt war zu allen Zeiten vorhanden, und all diesen tüftelnden Zeitgenossen haben wir es zu verdanken, daß wir uns hier auf der Erde schneller, bequemer und phantasievoller fortbewegen können. Freiherr von Drais erfand 1817 das erste Fahrrad und stellte es in Mannheim vor. Es besaß keinen Tretmechanismus, sondern mußte mit den Füßen vom Boden her abgestoßen werden, ein sogenanntes „Laufrad“ war entstanden. Für die damalige Zeit war dies verkehrstechnisch schon sehr präzise konstruiert. Es wurde so dem Pferderitt zur Konkurrenz und Laufradbesitzer konnten der Geschwindigkeit des Pferdes, zumindest bergab, standhalten.

Im Laufe der Zeit schritt die Weiterentwicklung des Fahrrades voran und es wurde vielerorts ein Befreiungsschlag im kulturellen Sinn, besonders für die Frauenwelt. Emanzipierte Frauen konnten sich so aus den Zwängen ängstlicher Mütter und Tanten befreien, sich von Strickstrumpf und Kochtopf entfernen, mit Brüdern und Freunden ins Freie fahren und den Vorurteilen gegenüber Weibsleuten mutig und unternehmungslustig entgegentreten. Der Boden für Selbständigkeit und freie Berufstätigkeit wurde durch das Fahrrad bereitet - ein weiterer Wendepunkt in der Gesellschaft.

Der Radsport nahm seinen Anfang, ebenso die körperliche Ertüchtigung. Die Karikaturisten konnten mit überschwenglicher Begeisterung ihren Phantasien freien Lauf lassen und ihre Karikaturen über diese neue Mode in den Satireblättern wie Kladderadatsch, Lustige Blätter, Simplicissimus usw. veröffentlichen. Wie sie da flogen, die Damen mit den langen Röcken und Hüten, wodurch Knöchel und Waden sichtbar wurden, was als unsittlich galt, Rüschenunterkleidung kam zum Vorschein, Anblicke, die sonst nur zu erahnen waren. Zu dieser Zeit fand auch in den Kleiderschränken der Damenwelt eine Moderevolution statt. Das Erscheinungsbild der Frau unterlag einer drastischen Veränderung. Der Hosenrock wurde erfunden. Frisur, Kopfbedeckung, Schuhe und vieles mehr veränderten sich zugunsten von sportlicher Bequemlichkeit. Besonders die Befreiung von den einengenden Korsetts und Stangen, die aus Schönheitsidealen nicht einmal richtiges Durchatmen zuließen, gereichte zum körperlichen Wohl der Frauen. Werbeplakate dokumentierten in kunstvoller Weise den Zeitgeist des Fahrradfahrens, begleitet von Spott und Schadenfreude der Männerwelt über mißliche Lagen und Verrenkungen von fortschrittlichen Frauen. Aber ebenso auffallend sahen die „Dandys“ in dieser Zeit aus, die stolz ihre Runden fuhren, um den Damen zu imponieren.

Nach dem Hochrad entstanden die Niederräder mit Tretkurbelantrieb, Holzteile wurden durch schmiedeeiserne Teile ersetzt, Massenartikel in verschiedenen Variationen kamen ins Dasein, Luftreifen ersetzten Eisen- und Holzräder, Einmannräder und Mehrsitzer füllten das Straßenbild. Radfahrer-Vereine mit Fahrwart, Schlußmann mit Trillerpfeife, Zeugwart mit Luftpumpe und vieles mehr entstanden zur Freizeitgestaltung und für die Arbeitswelt. Die Wirtschaft wurde durch Zubehörartikel auf Trab gehalten, und durch die vielseitigen Einsatzmöglichkeiten des Rades entstanden auch neue Berufe und Sparten. Der damalige Kaufpreis eines Hochrades entsprach dem eines heutigen Kleinwagens. Das Rad wurde dadurch zum Statussymbol für die reiche und sportliche Oberschicht. Neid und Überheblichkeit kamen auf, als es sich die einfacheren Leute allmählich auch leisten oder ersparen konnten und es der sogenannten feineren Schicht, gleich taten.

Wie überall war auch in der Grafschaft Bentheim das Fahrrad von großer Bedeutung und sorgte für Freiheit und Unabhängigkeit. Wilhelm Liening, in Wietmarschen geboren und aufgewachsen, lebt jetzt in Nordhorn und erzählte mir dazu seine Erinnerungen und Erlebnisse: “Ich wurde 1936 eingeschult, und der Fußmarsch bis zur Wietmarscher Volksschule betrug eine 3/4 Stunde. Mit 6 oder 7 Jahren bekam ich mein erstes Fahrrad. Es war aus vielen anderen Fahrrädern zusammengebaut, denn damals warf man alte Fahrradteile nicht einfach weg, das gab es nicht. Fahrräder von jungen Männern, die für Hitler in den Krieg ziehen mußten, hängte man sorgfältig an Decken oder Balken auf und ließ die Luft zur Reifenschonung heraus. Man hoffte, die jungen Burschen kämen schnell aus dem Polen- und Russenkrieg zurück. Luftreifen durften auch nie in die pralle Sonne gestellt werden, damit sie nicht porös wurden. Das allzu pralle Aufpumpen war auch nicht gut, das konnte den Schlauch zum Platzen bringen oder er quoll dann unterm Mantel hervor. Solch ein Riß war dann schlecht zu flicken. Wulstreifen bekam man schneller rauf und runter als die Drahtreifen. War ein Riß recht groß, wurden von alten Reifen entsprechende Stücke herausgeschnitten und mit Gummilösung drübergeklebt, das ging aber nur bei Wulstreifen. Manchmal bestand der Reifen fast nur noch aus Flicken und es fuhr sich damit schwer auf sandigen Wegen, besonders im Malsand. Nennenswert ist die Karbidlampe vorne am Lenker, die hell strahlte, auch im Stand, jedoch bei Sturm schnell erlöschte. Dann mußte sie immer wieder mit dem Feuerzeug oder Streichholz angezündet werden. Manche Räder hatten noch keinen Rücktritt, als Rücklicht gab es nur „Katzenaugen“. Nach dem Krieg setzte sich Vorder- und Rückbeleuchtung mit Dynamos durch. Es konnte auch kein Fahrrad abgeschlossen werden wie heutzutage, jeder mußte selber drauf aufpassen und es abends wegsperren. So waren Fahrräder in der Wohnung nichts Ungewöhnliches, denn geklaut wurde nur nachts. Sattel und anderes Zubehör waren schnell abmontiert und entwendet. Extra Kinderräder gab es fast nie, sondern der Sattel wurde aus dem Rohr gezogen, dieses mit einem Korken verschlossen und der Sattel auf eine Vorrichtung vor dem Rohr gesteckt. Kinder, die solch eine praktische Umrüstung nicht hatten, mußten im Stehen fahren, was sehr anstrengend war. Räder, die arg verschrammt waren, strich man mit Eisenlack neu an, meistens in schwarzer Farbe. Bei Damenrädern wurde schon mal das kaputte Schutznetz am Hinterrad ausgewechselt. Bei den Herrenrädern dienten aufgeklappte Reifenstücke, die an den Schutzblechen befestigt wurden, als Schmutzfänger. In Nordhorn machte ich eine Schneiderlehre und im 1. Gesellenjahr konnte ich auf einem selbstverdienten Fahrrad am Wochenende zu meiner Familie nach Wietmarschen radeln, in die Nähe des Sportplatzes. Der Meister erkannte meine Sehnsucht nach einem Rad, kaufte es bei einem Kunden, und zog es mir in Raten monatlich vom Lohn ab. Welch ein schönes Gefühl von Unabhängigkeit kam 1949 in mir auf, als ich die unwegsame Strecke nach Hause und wieder zur Arbeit fuhr. Es war nach der Währungsreform etwas Besonderes, ein Fahrrad zu besitzen, es war ein Rixe-Rad. Ich erinnere mich auch an Firmennamen wie Triumph, NSU, Göricke, Diamant, Dürkopp, Panzer, Adler, Columbia, Victoria und viele andere mehr. Die Straße von der „Leebrücke“ bis Nordhorn war mit Löchern übersät, viele Radschäden entstanden, und mancher zog es vor, sein Rad zu schieben um die Reifen zu schonen. Erst Anfang der Fünfziger Jahre bekam sie eine Teerdecke, die das Fahren erheblich erleichterte.“

Auch Maria, seine Frau, konnte mir Interessantes aus der Kriegszeit berichten: “Zu uns ins nördliche Emsland kam oft ein Mann aus Dortmund zum „Hamstern“, wie man damals zu sagen pflegte und tauschte Fahrradreifen gegen andere Waren ein. Doch eines Tages wurde es für ihn zu brenzlig und es wurden Überlegungen angestellt, wie die „Hamstertour“ aufrechterhalten werden könnte, da doch Reifen dringend benötigt wurden. Die Auswahl fiel auf mich, obwohl ich erst 14 Jahre alt war. Da ich einen gültigen Ausweis hatte,und noch so jung war, wurde ich bei Kontrollen auch nicht weiter beachtet. Ich stimmte der ganzen Sache gerne zu, weil ich mal aus unserem Dorf rauswollte um die große weite Welt kennenzulernen. So fuhr ich mit Taschen voll Speck nach Dortmund, eine abenteuerliche Fahrt, aber interessant. Ich tauschte den Speck gegen Reifen ein und stand so manchesmal nur auf dem Trittbrett vom Zug, behängt mit Reifen und Taschen, denn die Züge waren damals voll mit anderen „Hamsterleuten“. Zuhause angekommen wurde wieder getauscht - Reifen gegen Butter, Kartoffeln, Speck, Eier, Bettwäsche und anderes. Während meiner Schulzeit bekam ich von der Ärztin ein „Rezept“ für einen Reifen, da ich krank war und nicht so schwer tragen durfte. Ich hatte noch mehrere Geschwister und jeder beeilte sich morgens, das Rad zu schnappen, um nicht die weite Strecke zur Schule laufen zu müssen. Wer es zuerst hatte, fuhr los, die anderen mußten laufen. In dieser Zeit sah man viele Räder ohne Klingel und ohne Licht, erfuhr aber auch Nachsicht von der Polizei.“

Wer diese Zeit miterleben mußte, dem wird auch die Wertschätzung für ein Fahrrad erhalten bleiben, da es niemals selbstverständlich war, ein Fahrrad zu besitzen. Es wurde gehegt und gepflegt und in Ehren gehalten. Im Gegensatz zu heute, wo teure Fahrräder in Büschen, Wäldern, Bächen und Flüssen achtlos weggeworfen zu finden sind, da ja bei Diebstahl die Versicherung zahlt, und der „Geschädigte“ viel Geld für ein Neues bekommt. Weil alles in dieser Hinsicht so einfach und bequem geworden ist, sinkt gleichermaßen das Bewußtsein für Werte und Recht, und die alltäglichen Fahrraddiebstähle gehören bereits zum Alltag unserer Zeit.

Auch in unserer Region, nahe der Grenze zu den Niederlanden, dem Fahrradland schlechthin, sieht man auf Wegen und Straßen viele Radfahrer, die täglich zur Arbeit radeln, ihre Freizeit damit gestalten, oder einfach so durch die Gegend brausen, um sich an ihrer Errungenschaft zu erfreuen. Inzwischen gibt es eine Unzahl verschiedener Modelle, sodaß der normale Bürger leicht den Überblick verliert, welches denn nun für ihn das Geeignete ist. Die heutige „Fietze“ gibt aber dennoch begeisterten Radfahrern das wunderbare Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, und die Faszination, die von diesem Fortbewegungsmittel ausgeht, wird auch in Zukunft nicht verloren gehen.

Sicherlich gibt es in der Grafschaft Bentheim auf Speichern, Böden und in Kellern noch verborgene „Schätzchen“ aus alten Tagen, die es Wert sein sollten, einmal mit nostalgischen Augen betrachtet zu werden.

© Heidrun Gemähling