Die schrille Tante aus Buxtehude.


(2004)

Die Einladungen für das jährliche Familientreffen sollten zusammengestellt werden, und daher trafen sich einige Verwandte in kleiner Runde, die nicht so weit auseinander wohnten. Das Adressenbuch lag zusammen mit den Einladungskarten auf dem Tisch und nun wurde heftig diskutiert, ob auch die Tante aus Buxtehude eingeladen werden sollte.
„Warum denn nicht!“, meinten die einen, und die anderen riefen wie im Chor: „Nein, die auf keinen Fall!“

Es war nie so recht einfach mit dieser Verwandtentante, ihr Benehmen war sehr sonderbar, aber sie hatten sich alle daran gewöhnt und genossen sie so wie sie war. Doch dieses Mal sollten einige Nachbarn aus dem Haus eingeladen werden, und die Bedenken wegen dieser Tante standen im Raum, da ihr Auftreten peinlich werden könnte. Besonders bei Fremden strengte sie sich an, ihre Persönlichkeit zur Schau zu stellen, um im Mittelpunkt des Geschehens stehen zu können. Ein leises Seufzen durchdrang den Raum und das aufgeregte Denken war fast hörbar. Während sie angestrengt miteinander diskutierten, klingelte plötzlich das Telefon und die Tante aus Buxtehude war am anderen Ende. Sie wollte sich einfach nur mal melden, da sie ja wüßte, daß die Familienfeier bald wieder stattfinden würde.
„Ach, du bist es Edeltrude. Wir schreiben gerade Einladungskarten und da kann ich dich gleich mal fragen, ob du wegen deiner immer wiederkehrenden Migräne überhaupt kommen kannst?“, fragte ein männlicher Verwandter in den Hörer.
„Natürlich kann ich kommen!“, schallte es für alle im Raum hörbar zurück und ein Raunen war zu vernehmen, daß die Tante zum Glück nicht hören konnte.
Nach Beendigung dieses längeren Gespräches wurde beschlossen, der Edeltrude auch eine Einladung zu schicken, denn sie könnte nicht ausgeschlossen werden. Die jüngeren der Familie schienen sich schon jetzt sehr zu amüsieren, denn für sie war es lustig, wenn die Tante zu Besuch kam. Die konnte stundenlang Geschichten erzählen, die allen reichlich bekannt waren und jedesmal mit Fantastereien verlängert wurden. Um sich vom unaufhörlichen Redeschwall erholen zu können, verließen die schmunzelnden kichernden Hörer abwechselnd den Raum, um sich geistig zu erholen.

Der Tag des Treffens rückte immer näher und die Bedenken, wegen dem extremen Erscheinungsbild der Tante, nahmen zu. Doch dann war es soweit und die Familienrunde war fast komplett, ebenso die geladenen Nachbarn bis auf die Tante Edeltrude, die auf sich warten ließ. Auf einem riesengroßen langen Tisch standen reichlich Kuchen und Plätzchen, Kaffee und Tee durfte sich jeder selber einschenken und auch von den vielen mitgebrachten Köstlichkeiten nehmen. Wie immer, standen die Rumkugeln, von der Hausfrau nach einem geheimen Familienrezept gemacht, auf einem kleinen Tisch in der Nähe der Tür. Sie waren etwas Besonderes und befanden sich in einer alten bemalten Blechdose, die jeder kannte, aber erst vor dem Ende des Treffens als Abschiedsgruß herumgereicht wurde. So war es seit vielen Jahren Tradition, denn nach Schnäpschen und Likörchen bewirkten die Rumkugeln einen guten erinnerungsreichen Abschluß.

Es klopfte und klingelte plötzlich stürmisch an der Tür und eine freudige aufgedonnerte, buntgekleidete Tante stand in der Tür. Der knallgelbe mit Früchten belegte Strohhut füllte den ganzen Türrahmen und wie immer ertönte eine Frauenstimme durch das Zimmer.
Mit gestikulierenden Armen sagte sie folgende Worte:
„Seid gegrüßt ihr lieben Verwandten, und wer mich noch nicht kennen sollte, der soll es nun erfahren. Ich bin die schrille Tante Edeltrude aus Buxtehude!“

Ja, das war nicht zu übersehen und das Gelächter war dementsprechend. Sie trat näher und umarmte einen jeden theatralisch und stürmisch, besonders die männlichen Verwandten alt und jung. Der Jüngste aber von ihnen, der das Geküsse und Gedrücke nicht besonders mochte, versteckte sich wie jedesmal unterm Tisch und kam erst wieder hervor, wenn die Zeremonien vorbei waren.
„Na, Kleiner, bist wohl wieder kräftig gewachsen, oder?“, bemerkte die Tante, hob die Tischdecke empor und versuchte ihn zu streichelten.

Die Unterhaltungen wurden zunehmend lauter und die Bäckchen der geselligen Schar immer rosiger. Aus einem alten Plattenspieler erklangen Melodien vergangener Zeiten. Schon bei den ersten Tönen von Bill Haley sprang die schrille Tante vom Stuhl und rockte rasend um Tisch und Stühle. Die Begeisterung war riesengroß, auch bei den staunenden sich amüsierenden Nachbarn, bis die Tante auf das Sofa plumpste und die Beine in die Höhe streckte, um ihrem Übermut Ausdruck zu verleihen. Die Likörchen zeigten Wirkung was die Stimmung nun schlagartig veränderte, denn die Gesichter der Nachbarsleute veränderten sich entsprechend. Wortlos sahen sie sich an, und jeder wußte was der andere dachte.

Ab jetzt stand die Peinlichkeit im Raum, weil doch vom Verhalten dieser Person der weitere Verlauf des Abends abhing. Innerhalb der Familie wäre es nicht so schlimm, aber was würden nun die Nachbarn sagen, die versteift auf den Stühlen saßen und nicht wußten, wie sie sich verhalten sollten. Die Tante Edeltrude, dessen wuchtiger Hut sich durch die sportlichen Vorführungen total verschoben hatte, erhob sich schwankend und steuerte auf den kleinen Tisch zu. Schwungvoll nahm sie vor ihrem Publikum die Schachtel mit den Rumkugeln an sich, öffnete sie ganz langsam und rief in die Runde:
„Die gehören mir heute ganz alleine, denn nach Rumkugeln kann ich besser schlafen!“
„Tantchen, das kannst du nicht machen, wir wollen uns doch wie immer gemeinsam damit verabschieden!“, rief besorgt ein älterer Cousin.
„Nein, nein, die gehören heute mir und damit basta!“, lallte sie scherzend zurück.

Alle Blicke waren auf diese Person gerichtet und keiner traute sich etwas zu unternehmen. Aus Erfahrung wußte jedes Familienmitglied, daß ein Eingreifen ohne Erfolg bleiben würde. Nun kam die Krönung des Tages. Sie fing an, ihre alten Geschichten zum Besten zu geben, denn sie hatte Zuhörer, denen die noch unbekannt waren. Keiner wagte es sie auf den Stuhl zu drücken, damit sie ein wenig Ruhe gab. Verkrampft aber fest hielt sie die Rumkugeldose in ihren Händen, aß eine nach der anderen, sprach mit vollem Mund, verdrehte dabei die von Schminke verschmierten Augen und spitze hin und wieder ihren rotbemalten Mund zu dem unbekannten Nachbarn, mit den dunklen Locken, hin. Dann kam der besonders peinliche Moment, als sie der ahnungslosen Nachbarsfrau eine Rumkugel auf das rechte Auge drückte, die schreiend aufsprang und die Wohnung, im Gefolge der anderen verschreckten Nachbarn, verließ.
„Lauft nur, lauft nur! Ich bin und bleibe die schrille Tante Edeltrude aus Buxtehude und daran kann niemand etwas ändern!“, rief sie ihnen aus der Wohnungstür in den dunklen Treppenflur hinterher.

Das war nun der Familie doch zuviel und sie beschlossen, diese schrille Tante nie mehr einzuladen. Aber man staune, jedes Jahr stand sie unangemeldet wieder vor der Tür und bat um Einlaß. Keiner konnte ihrem aufdringlichen Charme widerstehen. Nur an den Rumkugeln konnte sie sich nicht mehr vergreifen, denn sie wurden jedem Einzelnen schön verpackt mit auf den Heimweg gegeben. Die Edeltrude hielt ihr zugeteiltes, kleines Rumkugelpäckchen ehrwürdig in den Händen und genoß, mit Tränen in den Augen, ihre weitere Familienzugehörigkeit.

© Heidrun Gemähling